Neue Zürcher Zeitung, # 227, 1. Oktober 2003, Andreas Maurer

Ein Bildnis des Dorian Kier

Der Kinokultstar Udo Kier in Zürich auf Stippvisite Seinen Namen kennen wenige, das Gesicht vergisst keiner. Zur Premiere von Lars von Triers "Dogville", wo er, wie so oft, kurz, dafür umso effektvoller auftritt, ist Udo Kier aus L."A. angereist. Mit einem Schmunzeln gibt er vor, im Erfolg baden zu wollen.
Wie warm sie leuchten können, seine hypnotischen Eis-Augen. "Die beiden Lampen aus jener Galerie muss ich haben", ruft er seiner Begleitung nach, ehe er sich auf den Stuhl schmiegt, jetlagged und verkatert angeblich - das Antlitz eines skandinavischen Königs. Bewusst schlägt er jeden in Bann: Udo "Kier Royal", Deutschlands geheimer Hollywoodsuperstar - 140 Titel seit 1966 führt seine Filmographie auf-, Fetisch mehrerer Kultregisseure, Trash-Ikone sowie Madonnas SM-Gespiele (im Video zu "Erotica"). Gefesse lt vom Hässlichen, umgibt er, der selbst stets zu den Schönsten gezählt wird, sich aussschliesslich mit Schönem. Der Blick des rastlosen Sammlers schweift zum Mirò hinter ihm. Er könne halt nichts wegwerfen; kein Wunder, als Kriegskind. Am Abend des 14."Oktober 1944, des Tags seiner Geburt, fallen Bomben auf Köln. Udo und seine Mutter werden aus den Trümmern des Krankenhauses geborgen. Vom Vater weiss er wenig.
Extreme. Ganze Lager habe er voll gestopft mit Grafiken, Skulpturen, Möbeln - die er sämtlich den drei Hunden vererben will, seinen Vertrauten und Lebensgefährten drüben in Los Angeles. "Doch fühlte ich mich 1975 in Paris glücklicher: ein Bett nur und ein Tisch. Nun wache ich manchmal auf mit dem unbedingten Drang, das Haus leer zu räumen und alle Wände orangegrün zu streichen; was ich tue." Seine Finger streifen den eben erworbenen Bildband "Minimalismus". Gleichermaßen unberechenbar verläuft seine Karriere. Was denn die Befriedigung aus diesem Beruf sei? - "Das Bankkonto." Während eines Flugs wurde er von Warhols Film-Muse Paul Morrissey entdeckt; so erlangte er 1974 - "als ein erigierter Penis Kunst war" - plötzlich Ruhm im Underground: als Baron Frankenstein, dem es in 3D die Leber zerfetzt, und als teutonischer Graf Dracula, der nach der letzten Jungfrau lechzt. Weitere Höhepunkte jener Jahre, Connaisseurs vorbehalten, FSK ab 18: "Spermula", Hexen bis aufs Blut gequält", Histoire d`O", an den Kier sich als "Porno für die ganze Familie" erinnert. Kunst/Kommerz/Exploitation - imaginäre Abgrenzungen. Fellini wollte ihn, Fassbinder ("Bolwieser") und Gus Van Sant ("My Own Private Idaho") holten ihn, Christoph Schlingensief huldigt ihm im "Deutschen Kettensägen Massaker". Udo Kier giert nach allen denkbaren und vor allem undenkbaren Erfahrungen. Darf es: nackt vor die Tür treten, überschnappen, töten - vor laufender Kamera. Kein anderer ist so oft so originell gestorben. Der Freund Lars von Trier, dessen erste Tochter sein Patenkind ist, soll dereinst sein wirkliches Begräbnis verewigen. Einstweilen kommen die zwei jeweils an Weihnachten zusammen, um drei Minuten ihres Gaga-Projekts "Dimension" zu drehen. Was daraus bis 2024 entsteht, ist unklar. "Ich stelle es mir vor als eine lange Kamerafahrt entlang einer Arkade, während deren ich, ohne Schminke, alt und grau und gebückt werde.“Beim Dreh zu "Dogville" habe das Ensemble Abende damit zugebracht, von Triers Orakelsprüche zu deuten. "Bitte! Es ist bloß ein Film!" Ihm habe Lars eine einzige Regieanweisung gegönnt, vor sechzehn Jahren, bei "Medea": Wie sollte er Jason darstellen? - "Be a tired king." To be or".".".Im Theater muss man spielen, im Film sein.
Zu gerne kokettiert er. Damals bei "Breaking the Waves" habe die Branchenbibel "Variety" Spalten gefüllt darüber, wie teuflisch er wirke. Dabei hatte ich schlicht dagesessen, Zigarette geraucht, meinen Dialogsatz gebrabbelt und ein bisschen am Messer gefummelt." Fassbinder, der Puppenmeister, liebte das Wahrheitsspiel, wie Kier sich entsinnt: Beantwortete man eine Frage mit einer Lüge und jemand entlarvte sie, wurde man brutal blossgestellt. "Seither sage ich immer die Wahrheit." In der Tat adelt eine irritierende Authentizität selbst seine bizarrsten Auftritte, ob er sich in "Ace Ventura" hinkend von Jim Carrey veräppeln lässt oder ob er in "Geister II" einem Frauenkörper als Satan entsteigt. Er verrät sein Geheimnis: Einfach an Zahlen denken; 1"536"820 + 690"000, und jedermann erscheine hoch konzentriert.
Wir werden unterbrochen. Der nächste Interviewer warte bereits. "Augenblick, schließlich soll der Bogen geschlossen werden", verscheucht er die Entourage. Wo waren wir? "Ah ja, ich genieße die totale Kontrolle bei Performances, bei Rezitationen von Genet oder Bataille etwa." Auch dies ist eine Performance. Dann noch ein Foto. Das Licht sei schlecht; also führt er uns nach draußen ins Mittagsgrau, atmet tief durch - "Hier ist Kultur beheimatet, in Amerika ist sie nur angereist" - und setzt sich vor dem "Odeon" in Pose. Eigentlich müsste Magritte ihn porträtieren. "Ich will gut aussehen. Nein - interessant."
"Dogville" läuft derzeit im Kino Arthouse Le Paris.

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